Dynamik in der Kunsttherapie

Dynamische Kunsttherapie – Wenn Flexibilität zum Werkzeug wird

Wie ich in der allgemeinen Psychiatrie mit Spontaneität, Anpassung und Ressourcenorientierung arbeite

Ahoi liebe Leserin, lieber Leser,

stell dir vor, du stehst am Steuer eines kleinen Segelboots. Das Wetter ändert sich ständig – mal Windstille, mal Böen, mal Regen, mal strahlender Sonnenschein. Die Crew wechselt jeden Tag. Manche haben noch nie gesegelt, andere sind erschöpft von einem langen Törn. Einige können kaum stehen, andere sind schon fast bereit, selbst das Ruder zu übernehmen.

Genau so fühlt sich meine Arbeit als Kunsttherapeutin in der Akutpsychiatrie an. Ich arbeite mit Menschen, die sich mitten in einer psychischen Krise befinden. Jeder Tag ist anders. Jede Gruppe ist neu zusammengesetzt. Und starre Konzepte? Die funktionieren hier nicht.

Deshalb arbeite ich dynamisch.

In diesem Beitrag möchte ich dir erzählen, was dynamische Kunsttherapie für mich bedeutet – warum Flexibilität in der Akutpsychiatrie nicht nur hilfreich, sondern notwendig ist. Du erfährst, wie ich Themen skalierbar gestalte, wie ich Ressourcen aufbaue und wo diese Methode an ihre Grenzen stößt.

Nimm dir Zeit. Mach es dir bequem. Und lass uns gemeinsam einen Blick auf eine Arbeitsweise werfen, die lebendig, responsiv und zutiefst menschlich ist.

1. Was ist dynamische Kunsttherapie?

Dynamisch – das Wort kommt vom griechischen dynamis und bedeutet Kraft, Bewegung, Veränderung. Und genau das beschreibt meine Arbeitsweise in der Kunsttherapie: Sie ist in Bewegung. Sie reagiert. Sie passt sich an.

Dynamische Kunsttherapie bedeutet für mich:

  • Auf den Moment reagieren – Ich schaue, wer heute vor mir sitzt und wie die Stimmung im Raum ist
  • Flexibel zwischen Anspruchsniveaus wechseln – Ich biete Themen an, die niederschwellig und anspruchsvoll zugleich sein können
  • Lösungsorientiert arbeiten – Ich gebe meinen Patient*innen Werkzeuge mit, die sie auch nach der Therapie nutzen können
  • Prozessorientiert denken – Der Weg ist wichtiger als das Ergebnis

Dynamische Kunsttherapie ist keine festgelegte Methode mit klarem Handbuch. Sie ist eher eine Haltung – eine Art, im therapeutischen Raum präsent zu sein und auf das zu reagieren, was gerade gebraucht wird.

Was dynamische Kunsttherapie nicht ist:

Nicht dynamischDynamisch
Starrer ModulplanFlexible Themenanpassung
Alle machen dasselbe auf demselben NiveauSkalierbare Aufgaben
Fokus auf TechnikFokus auf Prozess und Ressourcen
Nur für stabile Patient*innenAuch für akut Erkrankte geeignet

Dynamische Kunsttherapie lebt von der Bereitschaft, sich immer wieder neu einzulassen – auf die Menschen, auf die Situation, auf das Unvorhersehbare.

2. Warum Module in der Akutpsychiatrie nicht funktionieren

Viele kunsttherapeutische Konzepte arbeiten mit festen Modulen: Woche 1 – Selbstwahrnehmung, Woche 2 – Emotionen, Woche 3 – Beziehungen. Das kann in ambulanten Settings oder in längeren stationären Aufenthalten sinnvoll sein.

Aber in der Akutpsychiatrie? Da stößt dieses System an seine Grenzen.

Die Realität in der allgemeinen Psychiatrie:

  • Heterogene Gruppen: In einer Gruppe sitzen Menschen mit Depression, Angststörung, Psychose, Suchterkrankung – oft gleichzeitig
  • Unterschiedliche Krankheitsphasen: Manche sind gerade aufgenommen worden und stark destabilisiert, andere stehen kurz vor der Entlassung
  • Wechselnde Zusammensetzung: Jede Woche kommen neue Patient*innen, andere verlassen die Station
  • Schwankende Belastbarkeit: Wer gestern noch konzentriert arbeiten konnte, ist heute vielleicht nicht in der Lage, einen Stift zu halten

Ein starres Modul würde bedeuten: Ich plane am Montag, was am Freitag passiert – ohne zu wissen, wer dann überhaupt noch da ist oder in welcher Verfassung.

Das funktioniert nicht. Nicht hier. Nicht mit diesen Menschen.

Deshalb braucht es Dynamik.

Ich brauche eine Arbeitsweise, die sich anpasst wie ein Segel im Wind. Eine Methode, die Struktur gibt, ohne zu zwingen. Die Halt bietet, ohne starr zu sein.

3. Wie dynamische Kunsttherapie konkret funktioniert

Schritt 1: Vorbereitung mit Spielraum

Ich komme nicht unvorbereitet in die Gruppe – aber ich komme auch nicht festgelegt. Ich überlege mir vorher eine grobe Richtung:

  • Welches Thema könnte heute passen? (z. B. „Farben und Stimmungen”, „Brücken”, „Schutzräume”)
  • Welche Materialien bereite ich vor? (Stifte, Farben, Collagematerial, Ton)
  • Welche Varianten gibt es – niederschwellig und anspruchsvoll?

Dann schaue ich: Wer sitzt heute vor mir?

Schritt 2: Spontane Anpassung im Moment

Wenn die Gruppe beginnt, entscheide ich mich. Ich spüre:

  • Wie ist die Energie im Raum? Aufgewühlt? Müde? Angespannt?
  • Wer ist heute neu? Wer braucht Struktur, wer Freiraum?
  • Gibt es jemanden in akuter Krise?

Dann wähle ich das Thema und passe es an. Manchmal ändere ich auch mittendrin noch einmal die Richtung, wenn ich merke: Das passt heute nicht.

Schritt 3: Skalierbare Themen anbieten

Das Herzstück meiner dynamischen Arbeitsweise: Ich biete Themen an, die niederschwellig und anspruchsvoll zugleich sein können.

Beispiel: Das Thema „Brücken”

Niederschwellig:

  • Einfache Collage aus vorbereiteten Formen
  • „Klebe eine Brücke aus diesen Papierstücken”
  • Kein Text, keine Reflexion nötig

Anspruchsvoller:

  • Zeichnung mit Perspektive
  • Symbolische Auseinandersetzung: „Welche Brücke verbindet dich mit deiner Zukunft?”
  • Schriftliche oder mündliche Reflexion möglich

Beide arbeiten am gleichen Thema – aber jeder auf seinem Level. Das schafft Gemeinsamkeit, ohne jemanden zu über- oder unterfordern.

Weitere Themenbeispiele:

ThemaNiederschwelligAnspruchsvoll
Farben & StimmungenIntuitiver FarbauftragDifferenzierte Emotionspalette
SchutzräumeEinfache UmrisszeichnungDetaillierte Raumgestaltung mit Symbolik
Mein sicherer OrtCollage aus ZeitschriftenGemalte Landschaft mit Reflexion
WegeLinie auf dem PapierLabyrinth oder Lebensweg mit Stationen

Schritt 4: Ressourcen aufbauen – Der Werkzeugkoffer fürs Leben

Dynamische Kunsttherapie ist für mich nicht nur reagierend – sie ist auch lösungsorientiert. Ich arbeite nicht nur an Problemen, sondern auch an dem, was bleibt, wenn die Therapie vorbei ist.

Was nehmen Patient*innen mit?

  • Skills zur Emotionsregulation: „Wenn ich aufgewühlt bin, kann ich malen, um Dampf abzulassen”
  • Achtsamkeitstechniken: „Ich kann mich durch kreatives Tun ins Hier und Jetzt holen”
  • Selbstwirksamkeitserfahrung: „Ich kann etwas gestalten, ich bin nicht nur passiv”
  • Ein visuelles Anker-Bild: Etwas, das sie mitnehmen und das sie an ihre Stärke erinnert

Das ist der Unterschied zur reinen Prozessarbeit: Ich möchte, dass meine Patient*innen etwas Konkretes mitnehmen. Etwas, das sie auch zu Hause, nach der Klinik, nutzen können.

4. Warum Lösungsorientierung in der Akutpsychiatrie wichtig ist

In der allgemeinen Psychiatrie habe ich es oft mit Menschen zu tun, die sich in akuten Krisen befinden – aber nicht unbedingt mit komplexen Traumafolgestörungen. Sie sind erschöpft, überfordert, haben den Boden unter den Füßen verloren. Aber sie haben auch Ressourcen, die wir stärken können.

Der Unterschied: Stabilisierung statt Aufarbeitung

TraumaarbeitAkutpsychiatrie (allgemein)
Tief in die Vergangenheit gehenIm Hier und Jetzt stabilisieren
Verarbeitung schwerer VerletzungenAufbau von Bewältigungsstrategien
Langfristige ProzesseKurzfristige Entlastung und Orientierung
Spezialisierte TraumatherapieAllgemeine psychische Stabilisierung
Farbe im Fluss- Kunsttherapie

In der allgemeinen Psychiatrie geht es oft darum:

  • Wieder Boden unter die Füße zu bekommen
  • Selbstwirksamkeit zu spüren
  • Einen Ankerplatz zu finden
  • Mit nach Hause zu nehmen, was trägt

Deshalb arbeite ich lösungsorientiert. Ich frage nicht nur: „Was belastet dich?” Sondern auch: „Was hilft dir? Was trägst du schon in dir? Und wie können wir das sichtbar machen?”

5. Die drei Säulen meiner dynamischen Kunsttherapie

Wenn ich meine Arbeitsweise auf den Punkt bringen müsste, würde ich sagen: Sie ruht auf drei Säulen.

Säule 1: Dynamik – Flexibilität als Grundhaltung

Ich reagiere auf den Moment, auf die Menschen, auf die Stimmung. Ich bleibe beweglich, auch wenn das bedeutet, dass ich im letzten Moment umplane.

Konkret heißt das:

  • Ich habe immer mehrere Optionen im Kopf
  • Ich beobachte genau, was die Gruppe braucht
  • Ich passe Materialien, Themen und Anspruch spontan an

Säule 2: Skalierbarkeit – Für jeden das richtige Maß

Ich biete Themen an, die niederschwellig und anspruchsvoll zugleich sein können. Jeder kann auf seinem Level einsteigen, ohne sich ausgegrenzt oder überfordert zu fühlen.

Konkret heißt das:

  • Gemeinsames Thema schafft Gruppengefühl
  • Individuelle Umsetzung ermöglicht Selbstbestimmung
  • Niemand muss Leistung erbringen, jeder darf gestalten

Säule 3: Ressourcenorientierung – Werkzeuge fürs Leben

Ich gebe meinen Patient*innen etwas mit, das über die Therapie hinausgeht. Ich stärke ihre Fähigkeit zur Selbstfürsorge und Emotionsregulation.

Konkret heißt das:

  • Achtsamkeitstechniken werden geübt
  • Kreative Skills werden erfahrbar gemacht
  • Selbstwirksamkeit wird gestärkt

Die drei Säulen

Dynamik – Flexibilität als Grundhaltung
Skalierbarkeit – Für jeden das richtige Maß
Ressourcenorientierung – Werkzeuge fürs Leben

6. Ein typischer Ablauf in meiner Gruppe

Damit du dir konkret vorstellen kannst, wie dynamische Kunsttherapie aussieht, nehme ich dich mit in eine typische Stunde.

Vor der Gruppe: Vorbereitung

Ich stelle Materialien bereit: Papier in verschiedenen Größen, Stifte, Farben, Collagematerial. Ich habe zwei bis drei Themen im Kopf, die ich anbieten könnte.

Heute denke ich an:

  • „Farben und Stimmungen”
  • „Mein sicherer Ort”
  • „Brücken”

Zu Beginn: Ankommen und Wahrnehmen

Die Gruppe versammelt sich. Ich schaue:

  • Wer ist heute da?
  • Wie wirken die Menschen?
  • Ist jemand neu? Ist jemand besonders belastet?

Ich sehe: Eine Frau, die gerade aufgenommen wurde, wirkt sehr angespannt. Ein Mann, der schon länger da ist, scheint heute stabiler. Zwei weitere Teilnehmende sind ruhig, aber präsent.

Ich entscheide mich spontan für: „Farben und Stimmungen” – weil es niederschwellig ist und gleichzeitig Raum für Tiefe lässt.

Während der Gruppe: Flexibles Begleiten

Ich stelle das Thema vor:

„Heute geht es um Farben und Stimmungen. Sie dürfen sich Farben aussuchen, die zu ihrer aktuellen Stimmung passen. Sie können einfach malen, klecksen, Farbfelder anlegen – wie es ihnen guttut. Oder Sie können überlegen: Welche Farbe hätte meine Stimmung heute? Und welche Farbe wünsche ich mir?”

Niederschwellig: Die neue Patientin greift zu einem Pinsel und malt einfach nur Rot. Ohne Nachfragen. Das reicht.

Anspruchsvoller: Der stabilere Patient beginnt, ein Farbspektrum anzulegen. Er schreibt Worte dazu: Wut, Hoffnung, Müdigkeit.

Ich gehe herum, bin präsent, ermutige. Ich stelle keine Fragen, die überfordern. Ich halte einfach nur den Raum.

Am Ende: Kurzer Austausch (wenn möglich)

Wer möchte, darf zeigen, was entstanden ist. Manche sprechen, manche nicht. Das ist okay.

Die neue Patientin sagt leise: „Ich wusste nicht, dass Rot so guttut.”

Das reicht. Mehr braucht es heute nicht.

7. Wo dynamische Kunsttherapie an ihre Grenzen stößt

So kraftvoll dynamische Kunsttherapie sein kann – sie ist nicht für alles und jeden geeignet.

Grenzen meiner Methode:

1. Traumaarbeit

Dynamische, ressourcenorientierte Kunsttherapie ist nicht geeignet für tiefenpsychologische Traumaverarbeitung. Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen brauchen:

  • Spezialisierte Traumatherapie
  • Langfristige, stabile Settings
  • Fokus auf Verarbeitung, nicht auf schnelle Stabilisierung

In meiner Arbeit in der allgemeinen Psychiatrie arbeite ich mit Patientinnen, die sich in akuten Krisen befinden – aber nicht primär mit Trauma konfrontiert sind. Wenn ich merke, dass jemand traumatisiert ist, halte ich den Raum sicher, gehe nicht in die Tiefe und verweise an spezialisierte Kolleginnen.

2. Sehr akute Psychosen

Wenn jemand stark psychotisch ist – mit ausgeprägten Halluzinationen oder Wahnvorstellungen – kann auch dynamische Kunsttherapie überfordern. Hier braucht es zunächst medizinische Stabilisierung.

3. Schwere Suizidalität

Wenn jemand akut suizidal ist, steht Sicherheit an erster Stelle – nicht kreatives Gestalten. Kunsttherapie kann begleitend wirken, aber sie ersetzt keine Krisenintervention.

8. Was dynamische Kunsttherapie leisten kann – Ein Fazit

Dynamische Kunsttherapie ist kein starres Konzept. Sie ist eine Haltung. Eine Art, im therapeutischen Raum präsent zu sein – aufmerksam, flexibel, menschlich.

Was sie leisten kann:

  • Stabilisierung in akuten Krisen
  • Ressourcenaufbau durch kreative Selbstwirksamkeit
  • Emotionsregulation durch gestalterischen Ausdruck
  • Selbstfürsorge-Tools für die Zeit nach der Therapie
  • Gemeinschaft in heterogenen Gruppen

Was sie nicht leisten kann:

  • Traumaverarbeitung ersetzen
  • Langfristige Psychotherapie ersetzen
  • Akute Krisen allein bewältigen

Aber innerhalb ihrer Grenzen? Da ist sie kraftvoll. Lebendig. Und zutiefst heilsam.

9. Eine Übung für dich: Dynamisches Gestalten im Alltag

Du musst keine Kunsttherapeutin sein, um dynamisch zu arbeiten. Auch im Alltag kannst du diese Haltung nutzen – für dich selbst, für deine Kreativität, für deine Selbstfürsorge.

Material:

  • Papier
  • Farben, Stifte oder Collagematerial
  • 20 Minuten Zeit

Ablauf:

  1. Spüre: Wie fühlst du dich gerade? (Nicht denken – spüren)
  2. Wähle spontan: Welches Material zieht dich an?
  3. Gestalte frei: Ohne Plan, ohne Ziel. Lass deine Hand führen.
  4. Bleib flexibel: Wenn du merkst, dass du etwas ändern möchtest – tu es.

Reflexion:

  • Hat sich deine Stimmung verändert?
  • Was hat dir gutgetan?
  • Könntest du diese Übung in stressigen Momenten nutzen?

Das ist dynamisches Arbeiten: Nicht planen, sondern spüren. Nicht festlegen, sondern reagieren.

10. Abschluss – Dein Kompass in bewegten Gewässern

Dynamische Kunsttherapie ist wie Segeln: Du kannst die Windrichtung nicht ändern, aber du kannst lernen, die Segel anders zu setzen.

In der Akutpsychiatrie ist jeder Tag anders. Jede Gruppe ist neu. Jeder Patientin bringt eine eigene Geschichte mit. Starre Konzepte würden hier scheitern. Dynamik aber? Die trägt.

Ich lade dich ein, diese Haltung mitzunehmen – in deine Arbeit, in dein Leben, in deine Kreativität. Sei flexibel. Sei präsent. Und vertraue darauf, dass du im Moment das Richtige spürst.

Kunsttherapie muss nicht perfekt sein. Sie muss echt sein.

Ahoi und herzlichst, Deine Frauke

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