Langsamkeit als Ressource in der Kunsttherapie

Ahoi liebe Leserin, lieber Leser

und willkommen zu einer kleinen Reise ans innere Meer der Ruhe.

In einer Welt, die sich unaufhörlich dreht, wird Langsamkeit oft mit Stillstand verwechselt – dabei ist sie in Wahrheit Bewegung in ihrer feinsten Form. Sanft, bedächtig, fast unsichtbar. Wie Ebbe und Flut, die sich Zeit nehmen, um Landschaften zu formen. In der Kunsttherapie ist diese Langsamkeit keine Schwäche, sondern eine Ressource – eine Kraftquelle, die Menschen hilft, wieder in Kontakt zu kommen mit ihrem eigenen Rhythmus.

Wenn Zeit spürbar wird

In der lösungsorientierten Kunsttherapie verstehen wir Langsamkeit als einen achtsamen Gegenpol zu Beschleunigung, Reizüberflutung und Dauererreichbarkeit.

Psychologisch betrachtet aktiviert sie das parasympathische Nervensystem – jenen Teil unseres Körpers, der für Regeneration und innere Balance zuständig ist. Wenn der Pinsel sich verlangsamt, wenn Linien behutsam entstehen dürfen, sinkt der Stresspegel, der Atem vertieft sich, und das Denken darf leiser werden.

Langsamkeit ermöglicht Selbstwahrnehmung. Sie öffnet den Raum zwischen Reiz und Reaktion – jenen Moment, in dem wir uns wieder spüren. Für viele meiner Klientinnen ist genau dieser Moment der Beginn von Heilung: nicht, wenn „etwas fertig“ ist, sondern wenn das Tun selbst wieder fühlbar wird.

Warum Langsamkeit in der Kunsttherapie so wertvoll ist

In der klinischen Arbeit begegnen mir oft Menschen, deren innere Welt von Druck, Geschwindigkeit und Erwartung bestimmt ist. „Ich kann nicht stillsitzen“, sagen sie, oder „Ich muss doch etwas schaffen“.

In der Kunsttherapie entsteht ein Gegenraum: Hier darf Zeit anders fließen. Ein Strich darf sich dehnen, eine Farbe darf trocknen, bevor die nächste Schicht folgt.

Diese Erlaubnis zur Langsamkeit wirkt regulierend auf Körper und Psyche.

Sie schenkt Kontrolle zurück – nicht durch Leistung, sondern durch Wahrnehmung.

Am Beginn einer solchen Übung korrigiere ich die Mal-Geschwindigkeit meiner Patienten immer wieder, bis sie selbst in die Achtsamkeit kommen. Das Tun nicht zu bewerten, sondern es zu tun.

Das Material, der Rhythmus, das Atmen im Tun – alles wird zu einem Spiegel des inneren Tempos. Viele erleben, dass sie durch das Verlangsamen wieder Selbstwirksamkeit erfahren: Ich kann bestimmen, wie schnell oder langsam etwas geschieht.

Vielleicht wirst auch du nach einer solchen Übung feststellen, wie schnell die Zeit vergangen ist und doch hast du keine Geschwindigkeit gespürt. Einfach mal Pause im Kopf und einfach nur sein.

Praxisübung 1: Die Linie, die atmet

Für diese Übung brauchst du nur Papier und einen Stift. Optional wenn vorhanden, kannst du den Stift auch gegen Pastellkreide austauschen und nutzt deine Finger zum malen.

Atme bewusst ein – und zeichne beim Ausatmen eine Linie, so langsam, wie es dir möglich ist. Lass die Bewegung mit deinem Atem fließen.

Wenn dein Gedanke abdriftet oder du ungeduldig wirst, halte kurz inne. Spüre den Moment, dann kehre zurück zum Stift.

Mit der Zeit wirst du merken: Diese Linie atmet mit dir. Sie wird zum sichtbaren Zeichen deiner Präsenz.

(Tipp für Therapeutinnen: Diese Übung eignet sich hervorragend zu Beginn oder am Ende einer Sitzung, um das Nervensystem zu regulieren und die Aufmerksamkeit zu sammeln.)

Praxisübung 2: Farbfelder der Stille

Lege dir Pinsel und ein paar Wasserfarben bereit. Wähle eine Farbe, die dich anspricht – vielleicht ein sanftes Blau oder ein warmes Ocker. Trage sie in ruhigen, leichten Bewegungen auf das Papier auf.

Das langsame Malen hat eine besondere Wirkung:

Es wird still in den Gedanken, weil man sich immer wieder daran erinnern muss, die Geschwindigkeit herunterzufahren.

Mit jedem Strich wird die Bewegung bewusster, der Atem ruhiger, die innere Welt klarer.

Beobachte, wie sich Farbe, Wasser und Papier begegnen.

Du gestaltest – aber du steuerst nicht.

Dieses Loslassen, dieses „Geschehen lassen“, ist der Kern achtsamer Kreativität.

Achtsamkeit und kreatives Tun

Achtsamkeit und künstlerisches Gestalten begegnen sich dort, wo wir aufhören zu kontrollieren und beginnen, zu erleben. Malerei beginnt wo die Worte aufhören.

Langsamkeit verwandelt das Machen in ein Spüren.

Sie erlaubt uns, die feinen Übergänge zwischen Impuls und Ausdruck wahrzunehmen – den Moment, in dem Farbe zum Gefühl wird, Form zu Bedeutung, Schweigen zu Sprache.

Gerade in der Arbeit mit psychisch belasteten Menschen schafft das kreative Verlangsamen Sicherheit. Es gibt Struktur, reduziert Reizüberflutung und eröffnet einen inneren Raum, in dem Neues entstehen darf.

Lies hier weiter -> Farben als Weg zur Selbsterkenntnis durch Achtsamkeit

Literarische Inspiration:

„Die Entdeckung der Langsamkeit“

Sten Nadolnys Roman erzählt von John Franklin, einem englischen Polarforscher, dessen Langsamkeit ihm in der schnellen Welt des 19. Jahrhunderts erst als Schwäche ausgelegt wird – bis sie sich als seine größte Stärke erweist.

Franklin beobachtet, wo andere hasten. Er begreift, was um ihn geschieht, weil er sich Zeit lässt.

Dieses Motiv – Langsamkeit als Form von Tiefe und Wahrnehmung – spiegelt auf berührende Weise das wider, was auch in der Kunsttherapie geschieht: Wer sich erlaubt, langsamer zu sein, entdeckt mehr.

Und vielleicht ist es kein Zufall, dass ich bei dem Lesen von Franklins Geschichte das Gefühl hatte langsamer zu lesen. Das Meer selbst ist der Inbegriff von Langsamkeit – es trägt, formt, verändert – in Rhythmen, die man nicht beschleunigen kann.

Wenn wir in der Therapie oder im eigenen kreativen Prozess „die Entdeckung der Langsamkeit“ wagen, begeben wir uns auf eine ähnliche Reise: Wir lernen, im eigenen Tempo zu navigieren.

Für deine Praxis

Langsamkeit ist keine Methode, sondern eine Haltung.

Wenn du das nächste Mal ein kreatives Projekt startest – sei es mit Pinsel, Nadel oder Faden – versuche, bewusst langsamer zu werden. Spüre den Moment, in dem dein Körper sich entspannt, der Atem tiefer wird und das Material „antwortet“.

Und wenn du merkst, dass Unruhe oder Überforderung aufkommen, ist das kein Scheitern, sondern Teil des Weges.

In manchen Situationen, besonders bei tiefergehender psychischer Belastung, kann es hilfreich sein, diese Prozesse in einem sicheren therapeutischen Rahmen zu begleiten.

Abschließender Gedanke

Langsamkeit ist kein Rückschritt – sie ist ein Rückkehren.

Zu dir selbst, zu deinem Atem, zu dem, was dich wirklich bewegt.

Wie Ebbe und Flut verändert sie das Land deiner Seele still, aber beständig.

Vielleicht entdeckst du in dieser Ruhe den Raum, in dem deine Heilung beginnen kann.

Ahoi deine Frauke

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